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Mehr Lebensqualität an der Emscher
In dem glasklaren Wasser des Breuskes Mühlenbach in Recklinghausen lebt wieder der Dreistachlige Stichling. Foto: privat

Mehr Lebensqualität an der Emscher

Lesedauer: ca. 5 Min. | Text: Claudia Schneider

Vor 125 Jahren wurde die Emschergenossenschaft gegründet und vor eine Mammutaufgabe gestellt: Sie sollte das Abwasserproblem lösen. Heute wissen wir: Es ist gelungen! Und dafür gab es bei der Jubiläumsfeier sogar Lob vom Kanzler.

Wenn ein Bundeskanzler persönlich zum Festakt erscheint, weiß man: Das ist eine besondere Ehre und Wertschätzung. Am 28. November feierte die Emschergenossenschaft mit über 300 Gästen und im Beisein von Bundeskanzler Olaf Scholz und des NRW Ministerpräsidenten Hendrik Wüst in der Bochumer Jahrhunderthalle ihr Jubiläum – in der Stadt, in der am 14. Dezember 1899 Deutschlands erster Wasserwirtschaftsverband gegründet wurde. Olaf Scholz bezeichnete die erfolgreiche Renaturierung der Emscher als „visionäres Generationenprojekt und leuchtendes Vorbild für unser Land“.

Der Umbau des Emscher-Systems von 1992 bis 2021 war eines der größten Infrastrukturprojekte Europas und eine der größten Renaturierungsmaßnahmen der Welt. Längst ist es zu einem international beachteten Projekt mit Vorbildcharakter geworden. Diese Dimensionen haben die Schülerinnen und Schüler der Käthe-Kollwitz-Schule in Recklinghausen nicht im Blick, wenn sie bei schönem Wetter den Unterricht unter freiem Himmel genießen. Für die Gesamtschüler ist das „Blaue Klassenzimmer“ am renaturiertem Hellbach mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Dass der Hellbach früher ein verschmutzter Abwasserlauf war, können die Kinder heute kaum glauben. Den Begriff „Köttelbecke“ haben sie zwar schon mal gehört, aber schwammen damals wirklich Fäkalien durch offene Abwasserkanäle?

Ihre Eltern und Großeltern können sich an das stinkende Emschersystem aber noch gut erinnern. Der Geruch war aber nicht das größte Problem der Emscher: Mit der Industrialisierung siedelten sich viele Fabriken im Emschergebiet an, die viel Abwasser produzierten – ebenso wie die wachsende Bevölkerung. Abwasserkanäle konnte man aufgrund des Kohleabbaus jedoch nicht errichten: Die unterirdischen Kanäle wären durch Bergsenkungen beschädigt worden. Also floss alles Schmutzwasser in die Emscher und ihre Nebenarme. Diese trat immer öfter über die Ufer und Krankheiten wie Typhus und Cholera breiteten sich aus.

Kein Kirchturmdenken

Wasser kennt keine Stadtgrenzen, deshalb mussten die damaligen Städte und Kreise zwischen Dortmund und Duisburg eine gemeinsame Lösung finden. Das war die Geburtsstunde der Emschergenossenschaft. Der Verband war Vorbild für ähnliche Institutionen. Einige Jahre später wurde die Sesekegenossenschaft gegründet, aus der das heutige Schwesterunternehmen Lippeverband hervorging. Daher die Abkürzung EGLV.

Zurück zum Fluss: Um das EmscherProblem zu lösen, wurden ab 1906 der Fluss und seine Nebenbäche begradigt. Ab 1914 wurden zudem immer leistungsfähigere Pumpwerke gebaut. 1928 begann man mit dem Bau der ersten Kläranlage an der Emscher in Bottrop, es folgten weitere Anlagen. 1977 ging das damals größte Klärwerk Deutschlands an der Mündung der Emscher in Betrieb. Diese Maßnahmen boten wirksamen Hochwasserschutz und beseitigten auch die Gesundheitsprobleme. Doch mit der Natur hatten die offenen Abwasserkanäle wenig gemein – und gestunken hat es weiterhin.

Neues Zeitalter bricht an

Ab Mitte der 1980er Jahre kamen Fachleute auf die Idee, auch im Ruhrgebiet ein unterirdisches Abwassersystem zu bauen. Die Nordwanderung des Bergbaus machte es möglich. 1992 begann der Emscher-Umbau: Der erste Spatenstich erfolgte am Deininghauser Bach in CastropRauxel. Fast 30 Jahre lang wurden mit gewaltigen Tunnelbohrmaschinen Trassen in bis zu 40 Metern Tiefe angelegt. Um das Abwasser unterirdisch zu den Kläranlagen zu leiten, entstanden insgesamt mehr als 430 Kilometer neue Kanäle. Einige davon sind so groß, dass vor der Flutung ein Auto hineinpasste. Tatsächlich fährt jetzt ab und zu ein U-Boot-artiges Gerät durch die 51 Kilometer lange „Hauptschlagader“, den Abwasserkanal Emscher (AKE), um mögliche Schäden zu erkennen und, falls nötig, zu reparieren.

2021 wurde das Ziel erreicht: Die Emscher und ihre Nebenläufe sind seitdem abwasserfrei. Schnell hat sich die Natur erholt. In den Gewässern, die schon renaturiert wurden, leben wieder Fische wie der Dreistachlige Stichling und Emscher-Groppen. An den Ufern schwirren Schmetterlinge und auch die Blauflügelige Prachtlibelle, die als Qualitätsmerkmal für ein gesundes Gewässer gilt. Im Gegensatz zu früher, als die Emscher weitläufig abgesperrt war, kann man heute die neue blaugrüne Landschaft aus nächster Nähe erleben. 

Ehemalige Wirtschaftswege wurden zu Radwegen umgebaut – das neue Emscher-Radwegenetz umfasst 130 Kilometer. Neue Naherholungsgebiete sind auch Orte der Begegnung und bieten Raum für gemeinsame Aktivitäten. Die vier Emscher-Höfe sind zu beliebten Ausflugsorten geworden. Die Renaturierung einiger Gewässer geht weiter, aber längst hat sich die EGLV neue große Ziele gesetzt.

Uwe Schuhmann: Foto: privat 

Hobby-Winzer im Emscherland

Uwe Schuhmann ist in Recklinghausen aufgewachsen, hat aber viele Jahre im Süden in der Nähe von Weinbergen gelebt.
Seit einem Jahr ist er aktiver Hobby-Winzer und Mitglied der Allmende Emscher-Lippe. Im Natur- und Wasser-Erlebnis-Park in Castrop-Rauxel entstand ein großer „Mitmach-Weinberg“. „Wo der Wein gedeiht, gedeiht auch der Mensch“, so Schuhmann. Seit zwei Jahren lebt er wieder im Ruhrgebiet und staunt, welche blau-grüne Landschaft hier entstanden ist. Die Bäche, an die er aus seiner Kindheit als übelriechende „Vorfluter der Emscher“ erinnert, schätzt er heute als Naherholungsorte. „Man muss nicht in den Süden fahren, um bei einem Glas Wein Sonnenuntergänge in reizvoller Umgebung zu erleben.“

Rainer Oligmüller. Foto: privat 

Emscher-Guide aus Überzeugung

Rainer Oligmüller aus Marl ist stolz: Seit 2020 ist er zertifizierter Emscher-Guide. Schon bei der ersten Veranstaltung – einem Besuch der Emscherquelle – machte es bei ihm „Zoom“: „Ich habe mir sofort die Internetdomain Emscher-Guide gesichert.“ Nachhaltige Erwachsenenbildung wurde sein Ziel. Als Inhaber eines Landschaftsplanungsbüros in Recklinghausen hatte er beruflich stets auf Nachhaltigkeit und soziale Ausrichtung seiner Projekte geachtet. Der Emscher-Guide ist begeistert, dass er Menschen zum Handeln bringen kann. „Ich erkläre bei jeder Führung, was man selbst für die Umwelt tun kann.“

Dabei greift der 67-Jährige zu kreativen Mitteln: Mit einem mobilen Bodenlabor zeigt er, wie man empfindlichen Boden schützen kann. Im neuen Natur- und WasserErlebnis-Park Emscherland erklärt er am renaturierten Suderwicher Bach, wie man mit der Crowdwater-App hydrologische Daten sammelt, die in ein weltweites Bewertungssystem einfließen. „Es macht mich glücklich, mit welcher Begeisterung Erwachsene in die Natur eintauchen und mit kindlicher Faszination das neue Ökosystem Emscher entdecken.“

Sibylle Ostermann. Foto: privat

Neue Kraftquelle

Ich fühle mich von Flüssen angezogen“, sagt Sibylle Ostermann. Die Waltroperin findet fließende Gewässer faszinierend: „Ein Fluss verströmt Vitalität und Lebenskraft. Man kann dort die Gedanken fließen lassen.“ Als Fotografin hat sie zahlreiche Landschaftsaufnahmen gemacht – besonders an der Lippe. Die Emscher hingegen hat die 68-Jährige früher gemieden. „Das war eine stinkende Kloake.“ Heute ist die passionierte Radfahrerin begeistert, dass die Emscher abwasserfrei ist und nach und nach aus ihrem Korsett befreit wurde.

„Es macht Spaß, die neuen Radwege entlangzufahren und zu sehen, wie schnell sich Emscher und Natur regenerieren.“ Auch die Kunstwerke entlang des 101 Kilometer langen Emscher-Weges findet sie großartig. Die Emscher ist für sie zu einer neuen Kraftquelle geworden.

Info
Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV)

EMSCHERGENOSSENSCHAFT UND LIPPEVERBAND
Kronprinzenstr. 24
45128 Essen
www.eglv.de

 

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